Pädagogische Notlügen

Wie Floskeln aus der eigenen Kindheit in der Erziehung plötzlich wieder auftauchen – und warum wir sie besser durch ehrliche Erklärungen ersetzen sollten.

„Wenn du so lange vorm Fernseher sitzt, kriegst du noch eckige Augen!“
Dieser Satz ist mir vor gut zwei Wochen herausgerutscht, als meine Nichte bei uns zu Besuch war. Julia ist fünf Jahre alt und der Fernseher übt eine magische Anziehungskraft auf sie aus.

Kaum war der Satz draußen, habe ich mir auch schon auf die Zunge gebissen. Erstens weil ich Julia damit anscheinend wirklich erschreckt habe. Denn die Augen panisch aufgerissen kam mit zitternder Stimme die Frage: „Kann das wirklich passieren?“

Zweitens, weil ich selbst diesen Spruch als Kind wirklich gehasst habe. Im Gegensatz zu Julia war ich mir allerdings immer im Klaren darüber, dass meine Augen sicher nicht viereckig werden konnten. Wie meine Mutter auf die Idee kommen konnte, dass sie mich mit diesem Blödsinn vom Fernseher wegbekommen könnte, war mir damit ein umso ärgerlicheres Rätsel. Und jetzt stand ich hier gut 20 Jahre später und musste plötzlich mit anhören, wie sich dieses Wort gewordene erzieherische Unvermögen ungebremst seinen Weg durch meinen eigenen Mund bahnt.

Natürlich habe ich zuerst einmal die arme verängstigte Julia beruhigt und ihr gesagt, dass ihre Augen nicht viereckig werden, dass es ihr aber trotzdem nicht gut tut, wenn sie zu lange vor dem Fernseher sitzt. Auf die darauf folgende Frage „Warum“, habe ich weitere Fettnäpfchenantworten à la „Frag mir keine Löcher in den Bauch“, „Darum“ oder „Weil ich es sage“ dankenswerterweise ausgelassen. Stattdessen habe ich versucht, ihr zu erklären, dass ihre Augen noch „wachsen“, sich also noch entwickeln, und das Scharfstellen trainieren.

Und dass ihre Augen, wenn sie lange Zeit auf einen Gegenstand schaut, der immer in derselben Entfernung ist, nicht scharfstellen müssen und „faul“ werden. Was schlussendlich dazu führen kann, dass sie insgesamt schlechter sieht und eine Brille braucht. Zu meiner großen Überraschung hat sie diese Erklärung anstandslos ak-zeptiert und sich ihren Malsachen gewidmet. Nachdem ich nun also ihren Schrecken beseitigt hatte, konnte ich mich meinem eigenen widmen: Wie um alles in der Welt konnte mir dieser einst so verhasste Satz einfach so herausrutschen?

Scheinbar machen es sich Floskeln, die wir als Kinder sehr oft zu hören bekommen, vor allem die besonders verhassten, irgendwo in einer kleinen dunklen Kammer unseres Gehirns gemütlich und schlummern dort friedlich vor sich hin. Sind 20 Jahre vergangen und ein Kind tut etwas, was es nicht tun soll, tauchen sie plötzlich wie aus dem Nichts auf und erscheinen im pädagogischen Eifer bzw. der daraus resultierenden Frustration als das, was sie schon nicht waren, als wir sie selbst noch zu hören bekommen haben: adäquate Hilfsmittel zur Kindererziehung.

Hier bewahrheitet sich offensichtlich ein weiterer Satz, den ich als Kind auf den Tod gehasst, aber immerwiedergehörthabe:„Wenndu erwachsen bist, wirst du das anders sehen!“ Bleibt wohl nur die Hoffnung, dass der Zug in die Weisheit meiner Kindertage noch nicht ganz abgefahren ist. Solange ich mich zumindest noch erinnern kann, wie es mir selbst mit Sprüchen dieser Art als Kind ergangen ist, kann ich mich ja vielleicht auch davon abhalten, sie selbst vom Stapel zu lassen. Ich möchte meine zukünftigen Kinder nämlich eigentlich nicht mit müden Floskeln wie „Schiel nicht, sonst bleiben deine Augen stecken“ oder „Das erklär ich dir, wenn du groß bist“ abspeisen.

Denn Hand aufs Herz: Bei genauer Betrachtung sind diese ein direkter Weg, Wissensdurst und Lernfreude eines Kindes abzuwürgen. Und sie führen nicht nur nicht zum erwünschten Ergebnis, nämlich der trauten Einigkeit von Eltern und Kind, sondern zu immer mehr Fragen und immer mehr Bockigkeit. Erziehungssprüche dieser Art bergen nämlich einiges an Motivationspotenzial. Allerdings motivieren sie den Nachwuchs in den meisten Fällen dazu, das angebliche Fehlverhalten aus Trotz erst recht weiterzuführen oder sogar noch zu steigern.

Also liebe Eltern: Wenn euch eure Kinder das nächste Mal auf die Nerven gehen und euch schon eine der vielen pädagogischen Notlügen auf der Zunge brennt, dann ruft lieber euren internen Löschzug, bevor ihr noch weiter Öl ins Feuer gießt. Denkt daran, wie ihr früher selbst auf erzieherische Notlügen dieser Art reagiert habt bzw. hättet und lasst sie lieber sein. Eine kurze, auf der Wahrheit beruhende Erklärung, warum etwas nicht gemacht werden soll, hat deutlich mehr Erfolgschancen und führt auch schneller zum erhofften Ziel. Und das ganz ohne unerwünschte Nebenwirkungen …

Nach oben scrollen